37. Oldenburger Rohrleitungsforum
"Dekarbonisierung des Energiesystems ist zweifellos eine der größten Herausforderungen unserer Zeit"
ABZ: Das Rohrleitungsform hat in diesem Jahr das Leitthema "Städte der Zukunft – Transformation der unterirdischen Infrastruktur". Wo sehen Sie in der Transformation der unterirdischen Infrastruktur in den kommenden Jahren die größten Herausforderungen?
Böge: Die Veränderung der unterirdischen Infrastruktur ist in der Versorgungswirtschaft keineswegs neu. Tatsächlich befinden wir uns seit Jahren in einem kontinuierlichen Wandel. Prozesse wie der Atomausstieg und der damit verbundene nachdrückliche Ausbau regenerativer Energiequellen haben diese Transformation schon früh angestoßen. Auf dem Stromsektor sehen wir bereits beeindruckende Fortschritte – ein Beleg dafür, dass Transformation möglich ist.
Die Energiekrise, ausgelöst durch die Gasmangellage, hat diese Prozesse noch einmal beschleunigt. Gleichzeitig zeigt sie uns die Herausforderungen deutlich auf: Es geht nicht nur um technische oder wirtschaftliche Fragen, sondern auch um die Akzeptanz in der Gesellschaft. Während ein geordneter Wandel, wie der Atomausstieg nach Fukushima, weitgehend auf Zustimmung stößt, führt ein übereiltes und teilweise überambitioniertes Handeln schnell zu Unverständnis und Widerstand.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, passt sich aber gerne an, wenn er die Vorteile für sich erkennen kann. Genau hier liegt die Herausforderung der Transformation: Wir müssen die Ziele klarer formulieren, den Nutzen für alle Beteiligten verständlich machen und an einer verträglichen Strategie arbeiten, die den Menschen mitnimmt.
Für die unterirdische Infrastruktur bedeutet das, neben der technologischen Innovation auch die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen stärker in den Fokus zu rücken. Transformation ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie mit Weitblick und einer ausgewogenen Strategie angegangen wird.
ABZ: Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht die zwingend notwendigsten, die im Zuge der Klimafolgenanpassung erfolgen sollten?
Böge: Bei der Klimafolgenanpassung werden Städte direkt mit den genannten Herausforderungen der Transformation der unterirdischen Infrastruktur konfrontiert. Der Schlüssel liegt darin, gemeinsam und koordiniert vorzugehen – insbesondere in enger Zusammenarbeit mit anderen Akteuren, etwa aus Wasser- und Energieversorgungsunternehmen.
Eine der dringendsten Maßnahmen ist die integrative Identifikation der Bedarfe. Dies betrifft vor allem eine wasserbewusste Stadtentwicklung, die nicht nur Starkregenereignisse und Überflutungsschutz berücksichtigt, sondern auch den Umgang mit längeren Trockenperioden und den Erhalt der Wasserressourcen. Solche Maßnahmen müssen im Dialog mit allen Beteiligten gedacht und umgesetzt werden – von der Planung bis zur Ausführung.
Ebenso wichtig ist es, die Bürgerinnen und Bürger aktiv einzubinden. Das Ziel muss sein, nicht nur Akzeptanz zu schaffen, sondern auch Verständnis für die Notwendigkeit der Maßnahmen zu fördern. Hier spielt Bürgerbeteiligung eine zentrale Rolle, da sie den Menschen die Möglichkeit gibt, ihre Perspektiven und Bedürfnisse einzubringen. Gleichzeitig hilft sie, das Gefühl der Überforderung zu vermeiden, indem sie zeigt, wie die Maßnahmen auch konkrete Vorteile für die Lebensqualität in der Stadt bringen können.
ABZ: Sie sagten im Vorfeld: "Ziel muss es sein, unsere Städte lebenswert zu erhalten und im Zuge der notwendigen Transformation unserer Infrastrukturen generationsgerechte Lösungen zu finden." Wie genau meinen Sie das?
Böge: Mit "lebenswerten Städten" und "generationsgerechten Lösungen" meine ich einen nachhaltigen Lebensraum, der den Bedürfnissen der heutigen und künftigen Generationen gerecht wird. Nehmen wir das Beispiel Klimafolgenanpassung: Die Urbanisierung schreitet unaufhaltsam voran, was zwangsläufig zu einem Anstieg der Versiegelungsflächen führt. Gleichzeitig machen uns die Häufung von Starkregenereignissen und längeren Hitzeperioden zunehmend zu schaffen. Blau-grüne Infrastrukturen sind hier ein elementarer Lösungsansatz, um diesen Herausforderungen zu begegnen und gleichzeitig die Lebensqualität in den Städten zu verbessern. Sie helfen, Wasser besser zu managen, Hitzeinseln zu reduzieren und die Natur in die Stadt zurückzubringen. Ein gutes Beispiel ist der Straßenbaum, der durch Schatten und Verdunstungskühle einen enormen Beitrag zum Stadtklima leistet. Doch oft wird er eher als Ärgernis wahrgenommen – sei es wegen Laub oder Verunreinigungen durch Vögel. Hier müssen wir das Bewusstsein schärfen und den Mehrwert solcher Maßnahmen in den Vordergrund stellen. Ein weiteres Beispiel ist im Kontext der kommunalen Wärmeplanung zu finden. Auch hier gilt es neue Wege zu gehen, um die Wärmeversorgung nachhaltig zu sichern. Sei es neue Energiequellen für den Betrieb von Wärmepumpen zu gewinnen oder die Versorgung durch neue Nah- und Fernwärmenetze langfristig sicherzustellen. Auch können Symbiosen in sogenannten energetischen Nachbarschaften in den Fokus genommen werden.
Generationsgerechtigkeit bedeutet also, Entscheidungen so zu treffen, dass sie langfristig tragfähig sind. Dies erfordert eine enge Verzahnung von unterschiedlichen Disziplinen beispielsweise der Stadtplanung und Netzentwicklung.
ABZ: Vor welchen Herausforderungen sehen Sie die Branche im Zusammenhang mit der Dekarbonisierung des Energiesystems?
Böge: Die Dekarbonisierung des Energiesystems ist zweifellos eine der größten Herausforderungen unserer Zeit, und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft sind schon jetzt spürbar. Hohe Energiekosten belasten Unternehmen und gefährden den Wirtschaftsstandort Deutschland, der als Rückgrat unserer Gesellschaft nicht ins Wanken geraten darf.
Aus meiner Sicht ist es essenziell, pragmatische Übergangslösungen zu denken und umzusetzen, wenn Kapazitäten vorhanden sind. Auch wenn diese Lösungen zunächst noch nicht rein regenerativ sind, sind sie dennoch notwendig, um wirtschaftliche Stabilität sicherzustellen und die Transformation sozial verträglich zu gestalten. Das ist kein Rückschritt, sondern eine realistische Anpassung an die gegenwärtigen Rahmenbedingungen – immer mit dem langfristigen Ziel der Dekarbonisierung im Blick.
Eine weitere Herausforderung besteht darin, die Infrastruktur entsprechend anzupassen. Wir benötigen zukunftsfähige Leitungsnetze, die flexibel genug sind, um sowohl fossile Übergangstechnologien als auch erneuerbare Energien effizient zu integrieren. Dies erfordert erhebliche Investitionen in die Modernisierung und Digitalisierung der Netze sowie in Speichertechnologien.
Nicht zuletzt ist auch die gesellschaftliche Akzeptanz ein entscheidender Faktor. Die Bevölkerung muss verstehen, dass Dekarbonisierung ein langfristiger Prozess ist, der nur mit einem ausgewogenen Zusammenspiel aus Innovation, Pragmatismus und gesellschaftlichem Dialog erfolgreich sein kann.
ABZ: Vorausgesetzt, dass Wasserstoff in naher Zukunft ausreichend zur Verfügung steht – sind unsere Gasnetze geeignet, künftig Wasserstoff zu transportieren? Was müsste angepasst werden?
Böge: Wasserstoff als Energieträger ist kein neues Thema. Bestand doch das alte Stadtgas zu einem erheblichen Anteil aus Wasserstoff. Bereits mit dem Wiederaufkommen des Themas Wasserstoff hat die Branche schnell reagiert und umfassende Forschung betrieben, um die Eignung unserer bestehenden Gasnetze zu prüfen. Gestützt wird dieses Vorgehen von der nationalen Wasserstoffstrategie, die durch Anpassung und Fortschreibung einen guten Handlungsrahmen vorgibt. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass unsere Rohrleitungen grundsätzlich in der Lage sind, Wasserstoff zu transportieren. Dies gilt insbesondere für das überregionale Transportnetz. Zudem sind neue Produkte, die als "H2-Ready" gekennzeichnet sind, bereits auf dem Markt verfügbar und unterstützen den Übergang zu einer wasserstoffbasierten Energieversorgung. Mit dem Ausbau des deutschen Wasserstoffkernnetzes wurde das Henne-Ei-Problem gelöst. Ausgehend von diesem Kernnetz besteht nun mehr Planungssicherheit, Wasserstoff in die Fläche zu bringen. Auch die Energieversorger sehen sich als Betreiber der Anlagen sehr gut aufgestellt. Dies gilt vorrangig für die Bereitstellung von Wasserstoff für die Industrie. Anpassungsbedarf gibt es lediglich im operativen Bereich und bei den Sicherheitsstandards, da Wasserstoff sich in seinen physikalischen und chemischen Eigenschaften von Methan unterscheidet. Das bedeutet, dass beispielsweise Dichtungen, Ventile und Verdichteranlagen an die besonderen Anforderungen von Wasserstoff angepasst werden müssen. Auch die kommunalen Verteilnetze dürften größtenteils mit Wasserstoff klarkommen. Hier stellt sich jedoch die Frage, wann und wie die Verbraucher bzw. deren Heizungsanlagen "H2-Ready" werden können.
ABZ: Wie kann aus Ihrer Sicht CO2 transportiert werden, um Kohlenstoffdioxid industriell nutzbar zu machen?
Böge: Auch für den Transport von CO2 spielen Rohrleitungen eine zentrale Rolle, wenn wir Kohlenstoffdioxid industriell nutzbar machen wollen. Aufgrund der physikalischen Eigenschaften von CO2 – insbesondere der Möglichkeit, es in verdichteter Form zu transportieren – ist der Transport über lange Strecken technisch machbar und bereits in ersten Projekten geplant. Ein Beispiel ist der Transfer von CO2 -Emissionen aus einem Zementwerk zu einer Raffinerie, wo das CO2 in Treibstoff umgewandelt wird.
Strategisch betrachtet wäre es jedoch deutlich sinnvoller, solche Synergien lokal zu nutzen, um den Aufwand und die Kosten für den Transport zu minimieren. Die Ansiedlung von CO2 -erzeugenden und CO2 -verarbeitenden Industrien in räumlicher Nähe könnte nicht nur den Energieaufwand für den Transport reduzieren, sondern auch die Wirtschaftlichkeit solcher Projekte erheblich steigern.
Um dies zu ermöglichen, braucht es jedoch mehr als nur technische Lösungen. Es erfordert eine enge Abstimmung zwischen verschiedenen Industriezweigen, eine kluge Standortplanung und vor allem klare rechtliche Rahmenbedingungen. Also bedarf es auch bei diesem Thema einer guten Strategie mit integrativem Ansatz.
ABZ: Welche Rolle wird aus Ihrer Sicht in den kommenden Jahren der Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Rohrleitungsbau spielen? Wird sich der Einsatz von KI unterstützend auswirken?
Böge: Künstliche Intelligenz (KI) und Machine Learning werden in den kommenden Jahren eine immer größere Rolle im Rohrleitungsbau spielen. Schon jetzt zeigen sich vielversprechende Anwendungsfälle, die unterschiedlichste Prozesse vereinfachen und beschleunigen können. Von der Planung und Bauausführung bis hin zur Instandhaltung der Rohrnetze bietet KI enormes Potenzial. Ein Beispiel ist die Optimierung der Netzplanung: KI kann große Datenmengen analysieren, um effiziente Leitungstrassen zu ermitteln. In der Instandhaltung ermöglicht KI eine vorausschauende Wartung, indem sie auf Basis von Sensor- und Bilddaten mögliche Schwachstellen frühzeitig erkennt und bewertet.
Entscheidend ist dabei jedoch, dass der Mensch die Kontrolle behält. KI kann und sollte als Werkzeug verstanden werden, das uns unterstützt, aber nicht ersetzt. Die natürliche Kompetenz und das Fachwissen der Ingenieurinnen und Ingenieure sind unverzichtbar, um die Ergebnisse der KI kritisch zu überprüfen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.
Wenn wir es schaffen, KI gezielt einzusetzen und dabei eine klare Rollenverteilung zwischen Mensch und Maschine zu wahren, sehe ich ein enormes Potenzial, die Effizienz und Nachhaltigkeit im Rohrleitungsbau zu steigern.
ABZ: Viele Branchen sind anfällig für Cyberangriffe aus dem In- und Ausland – wie sieht das im Rohrleitungsbau aus? Welche Schutzmaßnahmen werden genutzt?
Böge: Das ist in dieser Branche ein hochsensibles Thema! Gerade bei unseren Rohrleitungsnetzen, die als Kritische Infrastruktur (KRITIS) eingestuft werden, ist die Sicherheit essenziell. Ein erfolgreicher Angriff könnte schwerwiegende Folgen haben, sowohl für die Versorgungssicherheit als auch für die Gesellschaft insgesamt. Deshalb gelten hier besonders strenge Anforderungen, die es strikt einzuhalten gilt.
Bei aller Euphorie bei der Digitalisierung sind daher die Herausforderungen der Cybersicherheit nicht außer Acht zu lassen. Um diesem Hemmnis entgegenzuwirken, sind innovative und robuste Sicherheitslösungen erforderlich, die das Vertrauen in digitale Technologien stärken und ihre sichere Implementierung ermöglichen. Beispielsweise können die Nutzung hausinterner KI bzw. Chatbots das Risiko von Datenmissbrauch und andere Cyberangriffe eindämmen.
Zu den Schutzmaßnahmen gehören neben technischen Lösungen wie Firewalls, Verschlüsselung und Angriffserkennungssystemen (Intrusion Detection Systems) auch organisatorische Ansätze. Regelmäßige Sicherheitsüberprüfungen, Schulungen für Mitarbeitende und Notfallpläne sind unverzichtbare Bestandteile eines umfassenden Sicherheitskonzepts.
Darüber hinaus wird Resilienz immer wichtiger: Systeme müssen so gestaltet sein, dass sie auch bei einem Angriff schnell wiederhergestellt werden können. Dies erfordert wiederum eine enge Zusammenarbeit vieler Akteure.
ABZ: Hat der Rohrleitungsbau in den letzten Jahren seine Hausaufgaben gemacht oder sehen Sie Nachholbedarf?
Böge: Zu den angesprochenen Themen hat die Branche viele ihrer Hausaufgaben gemacht bzw. arbeitet noch an der Umsetzung vieler relevanter Aspekte. So gibt es nach wie vor Bereiche, in denen Nachholbedarf besteht.
Der Fachkräftemangel ist seit Jahren ein bekanntes Thema, und viele Fachverbände und Unternehmen haben darauf reagiert. Durch ansprechende Social-Media-Formate und gezielte Kampagnen wird versucht, insbesondere junge Menschen für die Branche zu begeistern – mit ersten Erfolgen.
Die Digitalisierung bietet hier eine große Chance: Sie macht Arbeitsplätze moderner und attraktiver, was gerade für die jüngere Generation von Bedeutung ist. Technologien wie Building Information Modeling (BIM), Drohneninspektionen oder KI-gestützte Planungssoftware zeigen, dass der Rohrleitungsbau längst nicht mehr nur klassische Handarbeit ist, sondern zunehmend technologische Innovationen integriert. Diese Entwicklung spricht besonders die "digital natives" an, die mit solchen Tools oft schnell vertraut sind.
Trotzdem bleibt der Fachkräftemangel eine der größten Herausforderungen. Neben der Ansprache junger Talente müssen auch verstärkt Maßnahmen zur Weiterbildung und Qualifizierung bestehender Mitarbeitender ergriffen werden, um sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren.
ABZ: In den nächsten Wochen stehen die Bundestagswahlen an. Was wünschen Sie sich an Unterstützung beim Ausbau nachhaltiger Energieinfrastrukturen und der Modernisierung bestehender Netze?
Böge: Ich wünsche mir von der kommenden Bundesregierung vor allem den Mut und den Weitblick, die großen Herausforderungen der heutigen Zeit im Ausbau nachhaltiger Energieinfrastrukturen und der Modernisierung bestehender Netze langfristig zu unterstützen. Mehr Planungssicherheit über den Horizont einer Legislaturperiode hinaus, wäre wünschenswert.
Wie in diesem Interview bereits angesprochen, sind klare Zielsetzungen, pragmatische Übergangslösungen und eine nachhaltige Strategie entscheidend, um die Transformation erfolgreich zu gestalten. Es braucht den politischen Willen, diese Themen mit Nachdruck und Weitsicht zu verfolgen – für eine zukunftsfähige und generationsgerechte Infrastruktur.
ABZ: Worauf freuen Sie sich persönlich beim 37. Oldenburger Rohrleitungsforum am meisten?
Böge: Ich freue mich besonders darauf, möglichst viele Gäste persönlich zu treffen und spannende Gespräche zu führen. Und natürlich auf den traditionellen Grünkohlabend am Donnerstag – ein Highlight, das zum Oldenburger Rohrleitungsforum einfach dazugehört!
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