Eröffnung des Bergson-Kunstkraftwerk erfolgte im Oktober in München-Aubing

Auferstehung einer Ruine

von: Christian Brensing
Bei der Revitalisierung des ehemaligen Heizkraftwerks bedurfte es allerdings gehöriger Anstrengungen, um es aus seinem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf zu holen.
Architektur
Das in nur drei Jahren bis zur Eröffnung im Oktober 2024 anspruchsvoll sanierte und erweiterte Kraftwerk dient heute Musik- und Kunstveranstaltungen. Foto: Bergson/Georg Stirnweiß

München . – Élan vital ist der zentrale Begriff von Henri Bergsons (1859 – 1941) Lebensphilosophie – sozusagen ein vitaler Schwung mit idealistisch-lebensbejahender Energie. Élan vital lässt sich unmittelbar auch auf das nach Bergson benannte Kunstkraftwerk in München-Aubing übertragen. Denn das seit 2016 in mehreren Nutzungsvarianten geplante, bis Mitte 2021 rückgebaute und in nur drei Jahren bis zur Eröffnung 2024 anspruchsvoll sanierte, mit Neubauten erweiterte Kraftwerk der Musen bietet einen weiteren erstklassigen Standort für Musik, Kunst und Kultur an der Isar.

Bei der Revitalisierung des ehemaligen Heizkraftwerks bedurfte es allerdings gehöriger Anstrengungen, um es aus seinem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf zu holen. Als Verbindung von Architektur- und Ingenieurleistung in der Gestaltung und Bautradition der 20er-Jahre entworfen, fand die bauliche Umsetzung durch die Reichsbahndirektion München allerdings erst während des Zweiten Weltkriegs statt.

Kriegsbedingt unterbrochen, wurde der Bau durch die Bundesbahn nach dem Krieg notdürftig gesichert und geschlossen, um dann von 1955 bis 1988 gemäß seiner ursprünglichen Bestimmung als Heizwerk für Bahnanlagen genutzt zu werden.

Nach der Stilllegung erfolgte der graduelle Übergang zu einem "Lost Place", wo allenfalls Fotoabenteurer, Ruinenliebhaber und Jugendliche ihren jeweiligen Interessen freien Lauf lassen konnten. Jedoch war der imposante Baukörper von 47 x 31 Metern mit einer Höhe von 25 Metern äußerlich und stilistisch als ein streng gehaltener Kubus zu allen Zeiten unübersehbar.

Außerdem verleihen die in rötlichem Mauerwerk gehaltenen Außenfassaden mit ihren 16 Meter hohen vertikalen Fenstern und deren Laibungen aus Nagelfluh ("verbackener" Gletscherkies) dem Bauwerk klassisch-streng anmutende Assoziationen. Wie eine Haut zieht sich die Fassade mit einem angedeuteten Stylobat – riesigen Pfeilervorlagen aus Backstein (Pilastern) – und vor allem dem schweren Traufgesims über die ingenieurtechnische Stahlbetonskelettstruktur.

Stilistische Mittel, die Anklänge an einen antiken Tempel wachrufen, hier jedoch Technik und Mechanik verherr-lichten. Nicht nur in der Außenansicht, auch im Innenraum entstehen in der kathedralenartigen Kesselhalle räumliche Wirkungen, die weit über die eines profanen Industriebauwerks hinausgehen.

Leute aufladen

"Das Thema "Aufladen" ist ein Begriff, den wir bewusst benutzen. Wie eine alte Batterie, die wieder ans Netz geht. Ein Maschinenhaus, das ohne Maschine zurückgelassen wird, ist zunächst rein gar nichts mehr, absolut leer. In diese obsolete Wertstruktur kann ich mich jetzt kreativ einbringen. Beim Kunstkraftwerk gelang uns dies durch gezielte Interventionen, wie zum Beispiel der Freitreppe, dem Kran, den Silos, der Black Box oder den vier silbernen Rohren der Küchenabluft. Ich möchte, dass Menschen durch diese Interventionen an Orte in diesem Raum gelangen, die eindrucksvoll sind und kreativ genutzt werden können. Wir bauen diese Infrastruktur, damit sich die Leute dadurch bewegen, also sinngemäß regelrecht aufladen. Somit könnte man sagen, dass dies schon vom Ansatz her eine vitale entwerferische Herangehensweise ist. Der élan vital ist hier durchaus zu verstehen als Bewegung im Raum," sagt Markus Stenger, einer der Gründer von Stenger2 Architekten.

So weit war es 2005 allerdings noch nicht, als die Allguth GmbH der Gebrüder Christian und Michael Amberger die Industrieruine erwarben. Ihr Wunsch, als privatwirtschaftliche Akteure mit dem Anspruch der Stadt München und ihrer Menschen eine neue Kunst- und Kulturdestination ins Leben zu rufen, fand über einen geschlossenen Architekturwettbewerb mit Hilfe der Münchner Architekten Stenger2 ihre bauliche Erfüllung. Gemäß dem Anspruch und Slogan "Bergson – Kultur neu spüren" versammelt das künstlerisch-kulinarirsche Funktionskonzept die unterschiedlichsten Nutzungen im Altbau wie auch in den angegliederten Neubauten (Brutto-Gesamtfläche insgesamt: 14 750 Quadratmeter): Ausstellungsräume für Kunst einschließlich der Kunstgalerie von Johann König, dem Live-Club im Untergeschoss, den Vortrags- und Konferenzräumen, dem Konzertsaal Elektra Tonquartier, Eventflächen und einer kulinarischen Erlebniswelt, bestehend aus Tagesbar, Restaurant, Biergarten und angegliedertem Ausschankgebäude.

Neuer Klangraum

Von all den neu geschaffenen Flächen ist, neben der historischen Kesselhalle, zweifellos das Elektra Tonquartier die faszinierendste. Der Konzertsaal für 476 Personen ist einer der innovativsten Europas für Auftritte und Aufnahmen. Ein Klangsystem, das von den Akustik-Ingenieuren Müller-BBM entworfen wurde: Der Klang, zum Beispiel eines Orchesters, trifft auf im gesamten Konzertraum fest installierte Mikrophone. Ein Computer wandelt den Sound in Echtzeit um, je nach Wunsch mit dem entsprechenden Nachhall (Kammermusiksaal, Kathedrale et cetera). Aus 80 Lautsprechern gelangt er zurück in den Saal, wo er sich mit dem spezifischen Klang der Musizierenden vermischt. Das Klangerlebnis ist das eines Raums, der so in dem Tonquartier gar nicht existiert. Das von Müller-BBM entwickelte Soundsystem nennt sich Vivace, ein elektroakustisches Nachhallverlängerungs- und Effektsystem. Ganz in der Tradition barocker Komponisten und Orchester kann mit Nachhall, Echo oder Antiphon usw. gearbeitet werden. Monteverdis Vespern könnten somit im Elektra Tonquartier quasi original nachempfunden werden.

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Architektur
Aus dem stillgelegten Kraftwerk entstand nach dem Umbau ein Brutto-Gesamtfläche von insgesamt 14 750 Quadratmetern. Foto: Architektur Stenger2 Architekten und Partner/Sascha Kletzsch

Das Elektra Tonquartier wurde offiziell am 9. Oktober mit einer spektakulären Auftaktveranstaltung, dem Big Bang, eröffnet, beziehungsweise mit der Jazzrausch Bigband musikalisch eingeweiht. Die 2024 von deren Künstlerischem Leiter Roman Sladek 2014 in München gegründete Formation wurde zum orchestra in residence des Bergson geadelt. Die Jazzrausch Bigband mit ihren genreübergreifenden Jazzinterpretationen stellt die ideale musikalische Hommage an die dynamisch vitale Architektur des Bergson Kunstkraftwerks dar.

Roman Sladek schildert die seiner Band und ihm damit gebotenen musikalischen Möglichkeiten: "Für Musikschaffende ist das Elektra Tonquartier ein einzigartiger und jederzeit wandelbarer, völlig neu zu nutzender Klangraum, der eben nicht nur der akustischen Musik vorbehalten ist. Und wer sagt, dass die Töne ihren Weg zum Publikum immer frontal von der Bühne aus finden müssen? In für den Saal und die Ensembles geschriebenen Kompositionen jagen die Klänge von oben nach unten, links nach rechts, hinten nach vorne. Wenn der Schall um die Zuhörer:innen fliegen soll, kann er das. Für eine neue künstlerische Dimension und den Anspruch aufwendiger eigener oder extern produzierter 3D-Erlebnisse ist die Räumlichkeit bestens gerüstet." Übergeordnet lässt sich dazu feststellen: Das Bergson ist eine beispielhafte Neuauflage einer baulichen Interpretation von Klang und Raum. Allein daran ist schon die Einzigartigkeit des Projekts zu messen. Aber die Wirkungen und Auswirkungen gehen weit darüber hinaus, wie Markus Stenger erläutert: "Das Bergson kann als gezielter Impuls eines zukünftigen Städtebaus verstanden werden. Als Polyzentrum, also einem neuen, vielfältig bespielten Stadt- und Viertelbaustein an der städtischen Peripherie, voll integriert und als extraordinärer Gravitationspunkt wieder vernetzt mit dem Geflecht der Stadt". Dergleichen Projekte sollen künftig wohl weniger von öffentlichen, sondern eher von privaten Bauherrn realisiert werden. In München gehe die vom Zentrum konzentrisch abfallende Dichte der Bebauung leider meistens auch mit der der Kulturdichte einher. Stenger weiter: "Gerade entsteht in Aubing eines der größten europäischen Siedlungsobjekte mit 30.000 neuen Wohnungen, mit anderen Worten reine Monofunktionsflächen. Ein falscher Ansatz, da im Bezug auf das Stadtzentrum auch an den Stadträndern Kulturklammern gesetzt werden sollten, die als Gegenpole zur Innenstadt, aber auch als Tor in die Metropolregion dienen. Hier liegt die Einzigartigkeit des Bergson, es als Blaupause zukünftiger Stadtreparatur zu sehen, nicht weniger." Wie man zweifelsohne erkennt, wirkt der élan vital des Bergson auf vielfältige Art, ob räumlich, klanglich oder in der bebauten Fläche.

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Der Autor ist Fachjournalist und Unternehmensberater aus Berlin/London.

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