Schilfgewebe

Von der Ernte bis zur Verarbeitung ein reines Naturprodukt

Baustoffe
Einfallsreich: Für die Schilfernte kommt im ungarischen Pirto ein umgebauter Mannschaftspanzer zum Einsatz. Foto: Claytec/M.Breidenbach

VIERSEN (ABZ). - Einer der ältesten Baustoffeder Menschheit kann angesichts der heutigen Bedarfe an Baustoffen nur ein Nischen-produkt sein und doch istseine Geschichte ein Plädoyer für den Erhalt und für die Förderung der Vielfalt der Möglichkeiten.

Schilf ist ein Naturbaustoff par excellence, er wächst natürlich, wird nicht künstlich gedüngt oder mit Chemikalien behandelt und die regelmäßige Ernte fördert seinen Bestand. Ohne Ernte beginnt die Verlandung und verdrängt das Schilf. Auch bei der Verarbeitung bleiben die Schilfmatten ein reines Naturprodukt, sie werden nach dem Trocknen ohne jede zusätzliche Behandlung lediglich mit Draht verwoben.

Schilf ist neben Lehm und Holz ein Urbaustoff. Es bildet an Seen und Gräben und in Sumpf- und Feuchtgebieten natürliche Monokulturbestände. Die Sumpfpflanze wird bis zu 4 m hoch. Die Vermehrung erfolgt in erheblichem Maß vegetativ. Die Pflanzen können bis zu 20 m lange Ausläufer bilden. Ganze "Schilfbestände" stellen oft nur eine einzelne Pflanze dar und sie werden sehr alt. Im Donaudelta fand man Pflanzen deren Alter auf ca. 8000 Jahre geschätzt wurde. Ernte schadet dem Bestand nicht, sondern beugt einer Verschlechterung der Wasserqualität der Seen vor.

Die jungen Sprossen werden in einigen Gebieten als Gemüse verwendet, aus den getrockneten Wurzeln wird Mehl zum Brotbacken hergestellt. Der Geschmack ist für uns ungewohnt. Seit Jahrtausenden spielt Schilfrohr vor allem eine Rolle als Naturbaustoff. Schilfrohr dient in Form von Reet als Dachdeckmaterial. Heute werden in der Mehrheit mehrschichtige Schilfrohrplatten oder als einfache Matten (Rabitzgeflecht) als Putzträger genutzt. Schilf nimmt keine Feuchtigkeit auf und verrottet kaum, es ist stabil und aufgrund seiner griffigen Oberflächenstruktur ein ausgezeichneter Putzgrund. Sein Gehalt an Kieselsäure ist überdies brandhemmend. In Lehm eingeputze Schilfrohrplatten werden seit Jahrzehnten erfolgreich in der Innendämmung eingesetzt. Die Matten sind auch für Trennwände und für den ökologischen Trockenbau geeignet. Dünne Matten aus Schilfrohr dienen zur Beschattung von Gewächshäusern, dickere als Windschutz. Die Schilfproduktion erfolgte früher von Hand, heute werden Maschinen eingesetzt. Geerntet wird traditionell, wenn die Gewässer so starkzugefroren sind, dass sie Mensch und Maschinen tragen. Auch ist Frost vor der Ernte wichtig, damit die Halme, die man verarbeiten möchte, den Blattbesatz verlieren. Ernte und Verarbeitung spielen in Deutschland praktisch keine Rolle mehr. Die Schilfproduktion hat sich in die osteuropäischen Länder wie Ungarn, Rumänien oder auch nach Weißrussland verlagert, wird aber auch dort seltener.

Die erfolgreiche Schilfproduktion in Pirto (Ungarn) ist dem zusammentreffen glücklicher Umstände zu verdanken. Das Unternehmen Claytec suchte in den späten 90er-Jahren einen Anbieter und trifft IstvanSzekessy, der nach Rückkehr aus Deutschland in seinen Heimatort Pirto die traditionelle Schilfproduktion zu einer neuen Blüte geführt hat. Pirto liegt in der großen ungarischen Ebene, im Südwesten des Landes. Die Dörfer sind eine Ansammlung von einzeln stehenden Häusern mit großen Grundstücken, es sind Orte ohne Zentrum, die Mitte lässt sich an der zentralen Bushaltestelle mit dem einzigen Lebensmittelladen am Ort erkennen.

Die Schilfernte hat in der Ebene Ungarns eine lange Tradition, war jedoch zum Zeitpunkt der Rückkehr Istvan Szekessys nach Pirto um Mitte der 90er-Jahre kaum noch rentabel. Durch den Kontakt zu Schilfbauern aus der Nachbarschaft, drei Brüder mit begnadeten handwerklichem Geschick, erkannte der Unternehmer schnell, dass die noch immer praktizierte Schilfernte nur wirtschaftlich sein kann, wenn auch die Wertschöpfung vor Ort passiert. Es kam zu einer gelungenen Kooperation zwischen den handwerklichen Naturtalenten und Szekessys Plänen, seiner Effizienskontrolle und nicht zuletzt Dank seiner Kontakte in Deutschland. Auf dem Markt vorhandene Webstühle für Schilfprodukte wurden angeschafft und verbessert.

Ein besonderes Glanzlicht wurde die Entwicklung von Erntemaschinen, um den mühsamen Schnitt von Hand zu ersetzen. Zunächst waren es kleine Traktoren mit speziellen Mähbalken, heute ist der Stolz des Unternehmens eine regelrechte kleine Manufaktur, die auf dem Fahrgestell eines russischen Panzers Platz findet. Eine Lösung, wie sie in Ländern entsteht, die an der Schwelle zu einer durchprofessionalisierten Welt stehen. Die Mischung aus Mangel an Material und Kapital aber auch Improvisationstalent und die Verbundenheit mit der eigenen Heimat machen so spektakuläre Lösungen möglich. Wer immer an den langen Abenden der Diskussion auf die Idee kam, alte Panzer zu nutzen, das ist nicht mehr bekannt. Gesichert ist aber, dass die drei Schilfbauern drei dieser Ungetüme bei Nacht und Nebel über Nebenstraßen und Feldwege quer durch Ungarn nach Pirto gefahren haben. Die Wannen der Panzer mit dem Kettenantrieb sind ideal geeignet, um die Last auf den gefrorenen Seen zu verteilen und gleichzeitig mit einem doppelten Mähbalken aus italienischer Produktion zu arbeiten. Es dürfte eine Menge Schweißgas gekostet haben, das Unterteil abzutrennen. Der spritfressene Panzerantrieb wurde durch ein Aggregat nebst Getriebe aus einem Traktor ersetzt, eine Kippplattform transferiert das geschnittene und gebundene Schilf auf bereit stehende Pritschenwagen. Zwei Mitarbeiter stehen auf der Plattform vor der Fahrerkabine und reichen die geschnittenen und gebundenen Garben nach hinten.

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Auch als natürlicher Dämmstoff, für Innenwände im Trockenbau, zur Beschattung von Gewächshäusern, als Windschutz oder als besonders feuchteresistenter Putzträger findet Schilf Verwendung. Foto: Claytec/Willhardt

Das stolze Unikat, einmalig auf der Welt, wurde immer weiter verfeinert, jüngst bekam es eine geschlossene Fahrerkabine, der Boden beheizt mit der Abwärme des Hydrauliköls. Der Fahrer hat den kältesten Job. Während die anderen sich bei starkem Frost warm arbeiten, froren ihm zuvor die Gliedmaßen an den kalten Hebeln fest.

Junior Maximilian Breidenbach ist zur Schilfernte 2013/14 nach Pirto gereist und seine Fotos zeigen den Rohstoff vom Wetter verwöhnt. Normalerweise wird im Dezember geschnitten doch in diesem Jahr hat der ausbleibende Frost den Einsatz bis Februar warten lassen. Die Ernte wird zu Mieten zusammengetragen, wo sie vor der Verbringung in die überdachten Lager trocknen. Die beiden Produktionsanlagen erinnern an vergangene Zeiten.

Die vollmechanischen Webstühle brauchen keine komplexe elektronische Steuerung, beim ungarischen Lohnniveau und bei der Menge der produzierten Ware ist der Anteil der Handarbeit relativ hoch. Drei Produkte werden hergestellt, Dämmplatten im Format 1 x 2 m mit Stärken von 2 und 5 cm sowie die Putzträgermatten die auf Rollen 10 x 2 m geliefert werden. Das Naturprodukt Schilf ist vor allem im Zusammenhang mit Reetdächern und als Sichtschutz bekannt. Eine traditionell wichtige Verwendung findet sich in der Sanierung von Denkmälern und besonders auch von historischen Fachwerkbauten in der Kombination mit dem Baustoff Lehm, ebenfalls ein reines Naturprodukt, das nur durch Mischen ohne Chemie und Wärme entsteht.

Claytec wurde 1984 als Unternehmen zur Sanierung für Fachwerk und erhaltenswerte Bausubstanz gegründet und begann Mitte der 90er-Jahre mit der zentralen Produktion von Lehmbaustoffen. Neben der umfassenden Palette der Lehmbaustoffe bietet das Unternehmen das komplette Produktportfolio an, das zum Einsatz auf der Baustelle rund um den Baustoff Lehm erforderlich ist.

Weil um die Jahrtausendwende auf dem deutschen Markt keine geeigneten Schilfprodukte mehr zu finden waren, reisten Peter Breidenbach und ein Freund und Mitarbeiter Franz Ix durch Europa, um geeigneten Ersatz zu finden. Ihr Weg führte sie auch nach Ungarn, wo sie allerdings mit allen sprachlichen und kulturellen Handicaps nicht den Weg nach Pirto fanden. Es war umgekehrt Istvan Szekessy, auch in Deutschland zu Hause, der zielgerichtet die wenigen Großabnehmer für Schilfprodukte in Deutschland identifizierte und ansprach. Peter Breidenbach und Istvan Szekessy fanden schnell zusammen, nicht allein deshalb, weil die gesuchten Produkte in der gewünschten Qualität und Menge zur richtigen Zeit bereit standen. Claytec bezieht seitdem ausschließlich Schilfprodukte aus Pirto. Neben der Geschäftsbeziehung verbindet die Unternehmer seither auch eine Freundschaft, die aus dem gemeinsamen Verständnis für die Produktionsweise erwächst. Oder, um mit dem Zitat des heute 80-jährigen Istvan Szekessy zu schließen: 50 % der Qualität eines Produktes ist die Moral.

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