Stahlbrückenbau im Stuttgarter Heilquellenschutzgebiet
Schlanke Linie als Zukunftsmodell für die neue Neckarbrücke umgesetzt
Für ihre Stahlsegel kamen dicke Stahlbleche zum Einsatz, die eine höchst anspruchsvolle Funktion und filigrane Ästhetik zugleich vereinen.Einen maßgeblichen Beitrag zu diesem Ergebnis leisten Längsprofilbleche (LP-Bleche) von Dillinger mit Hauptsitz in Dillingen an der Saar. Sie ermöglichen durch eine über die Länge maßgeschneiderte, variabel einstellbare Dicke die optimale Anpassung des Blechprofils an den Spannungsverlauf.Die Konstruktion besteht aus einem siebenfeldrigen Durchlaufträger. Markante Stahlsegel kennzeichnen die zwei Hauptfelder über dem Fluss. Beide Felder sind über die Stahlsegel und Zügelgurte an insgesamt neun Stahlmasten aufgehängt.Für die Stahlverbundkonstruktion entwickelte sbp ein Längstragwerk aus drei Hohlkasten-Stahlträgern. Dieses ist auf drei Hauptpfeilerreihen in Längsrichtung an den Außenseiten und in der Mitte des Überbaus unverschieblich gelagert und wird durch die Stahlsegel gestützt.
Auf diese Weise tragen die neun schlanken Stützen die enormen horizontalen Bremskräfte ab, die auf der viergleisigen Eisenbahnbrücke entstehen können.Ziel der Ingenieure von sbp war eine optisch leichte und transparente Brückenkonstruktion trotz der Spannweite von fast 80 m und der viergleisigen Eisenbahnlast. Voraussetzung dafür war ein oben liegendes Tragwerk mit Zügeln, die von Masten aus nach unten verlaufen.Anders als bei ähnlich konstruierten Schrägseilbrücken wählte sbp jedoch anstelle von Seilen eine Ausführung aus Stahlblechen und interpretierte somit das Modell einer klassischen Zügelgurtbrücke mit starren Zügeln neu. Blech-pakete aus zwei stehenden, mit umlaufenden Stirnfugen gefügten Blechen formen Zügel und Mastköpfe aller Segel.
Nach dem Prinzip der Umkehr eines Bogentragwerks löste sbp die Zügel in Segel auf. Philipp Wenger, Technical Director bei sbp, erläutert den dabei zugrunde liegenden Gedanken: "Beim Bogen werden die Vertikalkräfte aus dem Überbau über die Bogenbeine als Druckkräfte abgetragen. Kehrt man dieses Prinzip um, so werden aus den Bogenbeinen rein durch Zugkräfte beanspruchte Zügel." Er ergänzt: "Deshalb wurde für diesen umgekehrten Bogen ein unten leicht trompetenförmig aufgeweiteter und eher dünner Querschnitt gewählt, der nach oben hin schmal zuläuft und dabei dann zunehmend dicker wird." Durch dieses ausgeklügelte Zusammenspiel von Fläche und Volumen wurde erreicht, dass die Spannungsausnutzung im gesamten Segel wegen der unterschiedlichen Dicke der Stahlbleche über die gesamte Länge gleich ist.
Insgesamt wurden 18 Halbsegel mit identischer Geometrie zu den neun für die Brücke charakteristischen Segeln verschweißt. Die Segel tragen die Kräfte weitgehend membranartig ab und wurden aus über die Segelfläche variierenden Blechdicken gefertigt. Für jede Zügelkonstruktion der beiden Außenträger wurden jeweils zwei keilförmige LP-Bleche, deren Dicke von 35 mm bis 90 mm ansteigt, zu Blechpaketen verschweißt. Diese wurden zu 10,5 m langen Elementen mit einer Dicke von 70 bis 180 mm längsgefügt.Für die mittleren, deutlich höher beanspruchten Segel wurden bis zu 250 mm dicke Blechpakete aus den höherfesten Stahlgüten S460ML und S460QL benötigt. Da LP-Bleche jedoch nur im normalisierten Lieferzustand (beispielsweise S460NL) geliefert werden können, wurde für diese Zügel auf in Form gefräste Bleche zurückgegriffen. Für die zum Lastabtrag optisch wie ein Segeltuch gespannten Zügel mit sich nach unten verjüngendem Querschnitt lag für sbp die Verwendung von LP-Blechen nahe."Wir wussten natürlich, dass diese Bleche eine mögliche Lösung sind, um variable Dicken herzustellen und auch kostenmäßige Vorteile auszuschöpfen", erinnert sich Frank Schächner, Administrative Director bei sbp. "Die Ausschreibung musste aber wie immer produktneutral erfolgen", fügt er hinzu.
Dennoch wählte auch das mit dem Bau der Brücke von der Deutschen Bahn beauftragte Bauunternehmen Max Bögl aus Neumark diese besonderen Blechprofile von Dillinger. Durch ihre in Längsrichtung im Walzprozess variabel einstellbare Dicke erlauben LP-Bleche eine optimale Anpassung des Blechprofils an statische, konstruktive und fertigungsbedingte Erfordernisse.Bei dem Bau der neuen Neckarbrücke sprach generell ein weiterer Aspekt für den Einsatz von Grobblechen von Dillinger. Der Standort der Brücke liegt im Stuttgarter Heilquellenschutzgebiet: Bad Cannstatt ist nach Budapest der bedeutendste Mineralwasser-Standort in Europa – mit 44 Millionen l Schüttung pro Tag. Der Brückenneubau befindet sich in der Kernzone der durch artesisch gespanntes Mineralwasser unter sehr hohem Druck stehenden Gesteinsschichten. Die hier vorherrschenden natürlichen Druckverhältnisse durften durch den Bau nicht verändert werden, um eine Verletzung der Dichtschicht und damit Mineralwasser-Aufbrüche zu verhindern. Entsprechend hohe Restriktionen galt es bei den Bau- und Gründungsarbeiten zu beachten. Deshalb wurde das Längstragwerk auch – anders als ursprünglich geplant – anstelle von Beton mit Stahl realisiert. Hierdurch konnte das Eigengewicht der Brücke um gut 20 % reduziert werden, sodass deutlich weniger Lasten in den Baugrund abzuleiten waren.Europas führender Grobblechhersteller Dillinger lieferte insgesamt 1600 t Stahl an Max Bögl – vor allem Sonderstähle in großen Blechdicken und -formaten.169 t entfielen dabei auf LP-Bleche für die Zügel aus Baustählen der Güten S355J2+N, S355N und S355NL. Für die Längs- und Querträger, Mastkopfbleche und nicht dickenvariablen Teile der Segel kam vor allem thermomechanisch (TM) gewalzter Stahl zum Einsatz, darunter auch über 30 t schwere, extrem großformatige Bleche der Güte S460ML. Durch die großen Formate dieser TM-Bleche konnte die Zahl der Schweißnähte deutlich reduziert und durch die höhere Festigkeit zusätzlich Gewicht eingespart werden.