Transparenz im Lager
App verschafft Gerüstbauern Übersicht
Selbst nach einer Inventur hätten Betriebe des Gewerkes keinen genauen Überblick, weil sich immer viel Material auf den Baustellen befindet. Betriebswirtschaftlich ist das für einen Unternehmer kaum haltbar.
Noch viel schlimmer findet Schimmer: "In der Planung fehlt der Überblick. Während der eine Bauleiter sein Gerüst plant und im Lager feststellt, dass alle notwendigen Teile vorhanden sind, die in vier Wochen auf die Baustelle müssen, holt dazwischen ein anderer Bauleiter für seine aktuelle Baustelle vorgesehenes Material aus dem Lager. Es gibt bisher keine Planung oder Reservierung. Das belastet die Produktivität, denn entweder muss nun umgeplant, neues Material teuer eingekauft werden oder der Kunde muss gar warten".
Rückgabe von Gerüstteilen
Deswegen tat sich der Bau- und Wirtschaftsingenieur aus dem hessischen Weiterstadt laut eigener Aussage vor zwei Jahren mit Johannes King zusammen, um Lager in der Baubranche zu digitalisieren. Der Leipziger Astrophysiker setzt seit Jahren seine IT-Kenntnisse für Prozesse und Materialfluss in der Logistik ein. "Logistik im Handel oder der Produktion ist vergleichsweise einfach, weil Material und Waren lediglich rausgehen. Im Gerüstbau wird durch die Rücklieferung von Baustellen alles viel schwieriger", sagt King, der im Juni 2023 mit seinem Partner Christian Lehner das Startup Stocadro gründete.
Dass genau die Rückgabe von Gerüstteilen ist das entscheidende Problem für das Gewerk ist, weiß Lehner, der mehr als zehn Jahre in der Logistik der Veranstaltungsbranche beschäftigt war und deshalb die Herausforderungen aus eigener Erfahrung kennt. Denn während die Ausgabe noch strukturiert, durchgezählt und zumindest auf einem Zettel dokumentiert funktioniert, verläuft die Rückgabe meist chaotisch. Oft wird schon auf der Baustelle alles auf die Schnelle zusammengepackt, dann steht auch noch das Lager unter Zeitdruck. Es wird grob gezählt, schnell geschaut, ob Teile defekt oder sehr verdreckt sind. Für den Abgleich mit dem Ausgabezettel bleibt kaum Zeit. Und für Konsequenzen bei Abweichungen schon gar nicht.
Walter Stuber und Dirk Eckart, Inhaber von Gemeinhardt Service schätzen den jährlichen Materialverlust in der Branche auf drei bis fünf Prozent. Bei ihrem Lagerbestand von rund 10 Millionen Euro wären das 300.000 bis 500.000 Euro pro Jahr, die gestohlen werden oder irgendwie der Baustelle verloren gehen. Angesichts der guten Konjunktur und solider Rohstoffpreise konnte die Branche das bisher verkraften, heißt es. Doch in den vergangenen Jahren schwächelt die Auftragslage und die Materialpreise steigen.
Ein anderer Aspekt der Digitalisierung
"5 Prozent Schwund ist noch konservativ geschätzt", kommentiert Schimmer. Würden Gerüstbauer ihr Lager digitalisieren, könnten sie genau sagen, bei welchem Kolonnenführer oder welchem Kunde welches Material verloren geht. Mitarbeiter können angehalten werden, besser auf das Material zu achten, so die Beteiligten. Bei Kunden soll dann verlorenes Material in Rechnung gestellt werden können. Und wahrscheinlich kann gestohlenes Material sogar steuerlich abgeschrieben werden, vermutet Schimmer. Ein anderer Aspekt der Digitalisierung: Mit der höheren Transparenz kann die Auslastung des Materials genau festgestellt werden und damit vor allem eine nachvollziehbare Miete für die Gerüste festgelegt werden.
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Ein halbes Jahr habe sich King in den Materialfluss der Gerüstbauer reingefuchst, um die Komplexität und hohe Flexibilität zu begreifen. Beispielsweise findet der Bauplaner heute nicht das gesamte Material für sein Gerüst im Lager, doch in der Zeit bis der Aufbau stattfindet, kommen eventuell die entsprechende Teile von einer anderen Baustelle zurück.
Statt voreilig neues Material zu kaufen oder bei einem Verleiher zu mieten, soll man auf das Material warten können – wenn man wisse, dass es tatsächlich kommt. Noch komplexer wird das Thema, wenn man wie die sächsische Gemeinhardt Service GmbH nicht nur über durchschnittlich rund 200 Baustellen bedient, sondern bundesweit auch noch über vier Lager mit etwa 500 unterschiedlichen Teilen verfügt.
Dirk May, Projektleiter bei Gemeinhardt ist froh, dass das Programm von Stocadro Anfang des Jahres bei dem Sondergerüstbauer eingeführt wurde: "Wir haben eine bessere Übersicht und sind unsere Zettelwirtschaft los". Denn längst seien alle Lagermitarbeiter mit einem Tablet ausgerüstet. Vor allem die Planung ist einfacher. Für ein Gerüst, im CAD-System geplant, sollen automatisch sämtliche Teile aufgelistet und mit dem Lagerbestand abgeglichen werden. Die Teile sind dann auch für diese Baustelle reserviert.
Momentan werden bei der Rückgabe die großen Teile wie Rahmen und Stangen von Hand gezählt. Kleine Teile wie Verbindungsschrauben oder Beschläge werden in ein Gitterkorb getan und gewogen.
Kameras sollen alle Teile aufnehmen
Da der Lagermitarbeiter deren Gewicht kennt, kann er relativ genau sagen, wie viele von den Kleinteilen jeweils von der Baustelle zurückgekommen sind. Doch das ist nur der erste Schritt, denn Frank Schimmer ist dieses Vorgehen laut eigenen Angaben zu personalaufwändig und ungenau. Die Lösung, die er mit Stocadro anstrebt, soll über Künstliche Intelligenz (KI) laufen. Kameras sollen alle Teile aufnehmen, die über Machine Viewing erkannt und entsprechend registriert werden, so die Zukunftsmusik.
Die Not der Gerüstbauer sei groß. Und die Lösung, die Stocadro aktuell schon anbietet, soll zielführend für die mittelständischen Gerüstbauer sein. Das zeige sich daran, dass das Startup knapp eineinhalb Jahre nach der Gründung über neun Kunden aus Deutschland verfügt sowie je einen aus Kanada und der Schweiz. "Letztlich kann jedes Unternehmen profitieren, dass eine Kreislaufwirtschaft mit Lager betreibt", sagt Gründer Johannes King, etwa aus der Baubranche, der Industrie oder auch der Eventbranche.