Von Daten und Qualität

Zukunftssichere Schraubverbindungen in Windkraftanlagen schaffen

München (ABZ). – Die Windenergie ist ein Wachstumsmarkt – und eine Säule der Energieversorgung. Umso wichtiger ist es, dass diese Branche zukunftssicher ist. Das gilt auch für die dort genutzten Verschraubungen: Ohne die sichere Verbindung der Turmelemente untereinander oder des Maschinenhauses und der Rotoren geht es schlichtweg nicht. Immer mehr Anbieter und Hersteller setzen daher auf belastbare Daten: zum einen zur Qualitätskontrolle und auch zur Überprüfung der Prozesssicherheit.
Hytorc Windkraftanlagenbau Digitalisierung
Verschraubungen in Windkraftanlagen müssen generell enorme Kräfte aushalten und ableiten. Foto: Hytorc

"Wir müssen auch bei der angewandten Schraubtechnik ins 21. Jahrhundert kommen", sagt Joachim Santen von Hytorc. Der international aktive Experte für Verschraubungstechnik in der Windkraft sieht einerseits erste Schritte in die richtige Richtung, andererseits auch viel Nachholbedarf. "Die Technologien sind längst vorhanden."

Verschraubungen in Windkraftanlagen müssen generell enorme Kräfte aushalten und ableiten. Allein ein Rotorflügel wiegt zwischen 15 und 65 t. Dazu kommen standortbedingte Faktoren wie Niederschläge, Böen, Temperaturschwankungen oder – im Offshore-Bereich – Tidenhub und Wellengang. Auch Erdbeben kommen in deutschen Mittelgebirgen immer wieder einmal vor. Beim Ausfall einer Verschraubung droht also nicht nur das Risiko eines Stillstands oder einer Beschädigung der Anlage, sondern – je nach Standort – auch Gefahr für Leib und Leben.

Ausgewählte Hersteller und Betreiber haben daher begonnen, erste Schraubverbindungen innerhalb einer Windenergieanlage (WEA) zu definieren – inklusive Kontrollgrößen. Es geht ihnen um Qualität, Prozesssicherheit, Transparenz und Nachweisbarkeit. "Es ist der erste Schritt, dem sicher weitere folgen werden", ist Joachim Santen überzeugt.

Zum einen schätzt er, dass weitere Hersteller und Betreiber Vorgaben machen werden, zum anderen dürfte auch die Zahl der zu dokumentierenden Verbindungen innerhalb einer WEA steigen. Und er geht davon aus, dass weitere Faktoren den Prozess beschleunigen werden: "Die Risiken, die mit dem Betreiben eines Windrades oder Windparks verbunden sind, müssen abgedeckt sein. Die Dokumentation wird früher oder später eine relevante Rolle spielen, sei es, um Verantwortlichkeiten im Stör- oder Schadensfall zu klären, oder um schlicht immer leistungsfähigere Windenergieanlagen nachhaltig und sicher betreiben zu können.

Bevor es ums Dokumentieren gehen kann, müssen die jeweiligen Schraubfälle klassifiziert werden, macht Santens Kollege Ulrich Oehms von Hytorc Seis deutlich und verweist auf die VDI Richtlinie 2862. Diese teilt Verbindungen aufgrund einer Risikobewertung in die drei Kategorien A, B und C ein. Je sicherheitskritischer die Verbindung ist, desto sorgfältiger sollte diese montiert werden.

Technische Infrastruktur

Da der Mensch ohne technische Unterstützung nicht erkennen kann, ob eine Schraubverbindung richtig vorgespannt wurde, benötigt er Messsysteme, die ihm Daten liefern und eine Entscheidung ermöglichen. "Noch besser ist es, wenn die Systeme so gut sind, dass sie dem Werker eindeutig signalisieren, ob die Verschraubung iO oder niO ist", beschreibt es der Maschinenbauingenieur: "Solche Systeme sind in der Serienproduktion bereits seit Jahrzehnten erfolgreich im Einsatz." Allerdings mangele es an vielen Stellen an der technischen Infrastruktur, um die gewonnen Daten auch zu verarbeiten, weiß Oehms aus eigener Erfahrung.

Um einen Schraubfall zu bewerten, hat sich beim drehenden Verfahren die Messung von Drehmoment und Drehwinkel durchgesetzt. Beides kann im laufenden Schraubprozess problemlos mitgemessen und visualisiert werden. Das ermöglicht Stabilitätsbetrachtungen insbesondere für risikobehaftete Schraubverbindungen.

"Bei allen anderen Verfahren sind zwingend Längenmessungen erforderlich, die jeden Schraubvorgang deutlich verzögern", so Oehms. Durch die Verlagerung des Entscheidungsprozesses über rot oder grün ins Werkzeug kann sich der Werker ganz auf die Handhabung der Werkzeuge konzentrieren. Natürlich müssen die Hersteller der Anlagen den Kontraktoren alle benötigten Schraubparameter im Vorfeld zur Verfügung stellen, damit diese auch die benötigten Werkzeuge beschaffen können. Die gute Nachricht: Schon heute ist bei modernen, hydraulischen Schraubsystemen sowie kabelgebundenen und akkubetriebenen Werkzeugen die Messung von Drehmoment und Drehwinkel bereits implementiert oder lässt sich mit überschaubarem Aufwand nachrüsten.

Mit der Richtlinie VDI/VDE 2862 Blatt 2 werden seit 2015 für den Maschinenbau konkrete Vorgaben gemacht. "Das ist eine der schärfsten Richtlinien der Welt", lobt Oehms. Das Problem: Turm und Maschinenhaus gehören aus regulatorischer Sicht zwei unterschiedlichen Bereichen an. "Während das Maschinenhaus dem Maschinenbau zugerechnet wird, unterliegt der Turm einer Windkraftanlage den Vorgaben für den Stahlbau." Die hohen Anforderungen ans Maschinenhaus gelten nicht für den Turm.

Jede neue Regulierung oder Vorgabe zieht eine Investition nach sich: zeitlicher Natur, um neue Prozesse aufzusetzen und einzuspielen, sowie finanzieller Natur, weil das passende Schraubsystem anzuschaffen ist. Jede Neuerung hält aber auch Chancen bereit, weiß Joachim Santen. In diesem Fall sogar mehrere.

Kontraktoren oder Dienstleister, die heute schon mit digitaler Unterstützung verschrauben und dokumentieren, können der Verschärfung von Vorgaben gelassen entgegensehen: Für sie ist die Anwendung von smarter Technik bereits Alltag, was sie für kommende Auftraggeber interessant macht. Darüber hinaus können diejenigen, die smarte Technik heute bereits nutzen, ein größeres Leistungsspektrum anbieten.

Selbst wenn die Umstellung vom analogen Notieren auf digitalen Austausch nicht von heute auf morgen umzusetzen ist, sei es empfehlenswert, heute damit anzufangen, macht Joachim Santen deutlich. "Wer sich früh und konkret mit diesen Techniken und Möglichkeiten auseinandersetzt, wird anderen einen Schritt voraus sein." Ein weiterer Pluspunkt des digital überwachten Anziehens liegt in der Möglichkeit, die Qualität der Verschraubung deutlich zu erhöhen. Durch die Messung von Drehmoment und Drehwinkel kann die Streuung der Vorspannkraft gegenüber dem rein drehmomentgesteuerten Anziehen deutlich reduziert und die Vorspannkraft erhöht werden. Dies schafft Vorspannkraftreserven und stellt sicher, dass die Mindestklemmkraft über die gesamte Betriebsdauer aufrecht erhalten bleibt.

Ulrich Oehms: "Nur wenn ich sicher weiß, dass ich alle Schrauben richtig vorgespannt habe, kann ich auf eine Überprüfung beziehungsweise Wartung verzichten." Das hohe Vorspannen und die Dokumentation aller wichtigen Schraubverbindungen bilden die Basis für eine wartungsfreie Schraubverbindung in WEA.

Plus an Arbeitssicherheit

Ein weiterer Wirtschaftlichkeitsfaktor: Moderne Tools wie spezielle Montagewagen bieten nicht nur mehr Arbeitssicherheit bei reduzierter körperlicher Belastung des Montageteams, sondern verkürzen auch die Arbeitszeit bei der Verschraubung in den Turmsegmenten bei On- und Offshore-Anlagen erheblich. Das angestrebte Optimum von 60 Sekunden für die Verschraubung einer M64-Garnitur inklusive Umsetzen des Werkzeuges kann damit erreicht werden und wirkt sich positiv auf die Gesamtkosten aus.

Noch sind leider viele Fragen ungeklärt, moniert Joachim Santen: Die Richtung ist seitens der Hersteller, der Versicherungen und der Betreiber allerdings längst vorgegeben. Mit der Richtlinie VDI/VDE 2862 gibt es zudem einen konkreten Ansatz.

Es hapert noch an der stringenten Umsetzung, da oft keine Einigkeit darüber herrscht, mit welcher Priorität diese angegangen werden soll. Dennoch sind die Hytorc-Experten überzeugt: "Es wird kein Zurück mehr geben. Das handschriftliche Dokumentieren wird über kurz oder lang in den Schlüsselindustrien, wie es die Windkraft ist, weichen müssen. Dafür steht bei allen Akteuren zu viel auf dem Spiel." Qualität und Transparenz, Sicherheit und Nachweisbarkeit werden die Faktoren sein, nach denen sich diejenigen ausrichten müssen, die industrielle Verschraubungen projektieren, planen, umsetzen und warten.

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