Vorsicht bei großen Nachträgen mit öffentlichen Auftraggebern

Neues Vergaberecht regiert in Vertragsdurchführung hinein

von:

Rechtsanwalt Prof. Dr. Stefan Hertwig

Köln (ABZ). – Am 18. April ist das neuedeutsche Vergaberecht in Kraft getreten, mit welchem die europäischen Vergaberichtlinienaus dem Jahre 2014 umgesetzt werden. Der neue § 132 GWB befasst sich mit den "Auftragsänderungen während derVertragslaufzeit", also mit der Beauftragung von Nachträgen. Hier werden den Auftragnehmern erhebliche zusätzliche Risiken aufgebürdet. Das europäische Recht sah auch bisher schon die Beauftragung von Nachträgen kritisch. Sie sollten auf unvorhergesehene Fälle beschränkt bleiben und eine Änderung des wirtschaftlichen Gleichgewichts des Vertrages zugunsten des Auftragnehmers war verboten. In allen anderen Fällen müsse – so hatte es der Europäische Gerichtshof in seinem Pressetext-Urteil entschieden – eine neue Ausschreibung erfolgen. In der Entscheidungspraxis der Nachprüfungsinstanzen hatten Nachträge bisher gleichwohl keine große Bedeutung erlangt, weil Wettbewerber von den Änderungen des einmal zugeschlagenen Vertrages später rein tatsächlich nicht oder jedenfalls nicht rechtzeitig erfahren haben. Nunmehr muss der Auftraggeber große Nachtragsbeauftragungen über 15 % des Auftragswertes im Amtsblatt der Europäischen Union bekanntmachen, um Anfechtungsmöglichkeiten Dritter zu eröffnen und nachträglich ist der Auftraggeber sogar selbst zur Kündigung des gesamten Vertrages berechtigt, wenn die Nachtragsbeauftragung nach § 132 GWB eigentlich vergaberechtlich nicht zulässig gewesen wäre.

§ 132 GWB enthält auf den ersten Blick eine Erleichterung, weil es nicht mehr darauf ankommt, ob die zusätzliche Bauleistung "vorhersehbar" gewesen ist. Tatsächlich ist es für den Auftragnehmer jedoch risikoreicher geworden, eine Nachtragsleistung auszuführen. § 132 GWB gilt ab sofort für jegliche Änderung auch von bestehenden Verträgen, weil das ursprüngliche Vergabeverfahren über den bestehenden Vertrag seit längerem abgeschlossen ist. Die früher vertretene Auffassung, dass Nachträge im Umfang der Anordnungsrechte des Auftraggebers gemäߧ 1 Abs. 3 und 4 VOB/B keine vergaberechtlich relevanten Vertragsänderungen darstellen würden, weil dieses Anordnungsrecht im ursprünglichen Vertrag bereits enthalten ist, kann nicht mehr aufrechterhalten werden. § 132 Abs. 2Nr. 1 GWB regelt ausdrücklich, dass eine derartige Vertragsänderung nur zulässig sei, wenn in den ursprünglichen Vergabeunterlagen klare, genaue und eindeutig formulierte Überprüfungsklauseln oder Optionen vorgesehen sind, die Angaben zu Art, Umfang und Voraussetzungen möglicher Auftragsänderungen enthalten. Diesen Detaillierungsgrad weisen die Anordnungsrechte des Auftraggebers nach § 1 Abs. 3 + 4 VOB/B nicht auf.

Der typische Nachtrag ist ab sofort in § 132 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 GWB geregelt. Nummer 2 betrifft zusätzliche Bauleistungen, die in den ursprünglichen Ver-gabeunterlagen nicht vorgesehen waren; Nr. 3 betrifft Änderungen, die aufgrund von Umständen erforderlich geworden sind, die der öffentliche Auftraggeber nicht vorhersehen konnte. Zusätzliche Bauleistungen dürfen beauftragt werden, wenn ein Wechsel des Auftragnehmers aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen nicht erfolgen kann "und" mit erheblichen Schwierigkeiten oder beträchtlichen Zusatzkosten für den öffentlichen Auftraggeber verbunden wäre. Diese Formulierung ergibt wörtlich ausgelegt keinen Sinn, denn entweder kann sie aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen gar nicht erfolgen oder sie ist (nur) mit erheblichen Schwierigkeiten oder Zusatzkosten verbunden. Man wird die Vorschrift dahin gehend verstehen müssen, dass ihre Voraussetzungen immer dann erfüllt sind, wenn ein Wechsel des Auftragnehmers beträchtliche Zusatzkosten auslösen würde oder mit erheblichen technischen Schwierigkeiten verbunden wäre.

Die Änderung des Vertrages nach Nr. 3 steht unter dem Vorbehalt, dass diese Änderung "den Gesamtcharakter des Auftrages" nicht ändern dürfe.

Sowohl die Nr. 2 wie die Nr. 3 des§ 132 Abs. 2 GWB eröffnen den Gerichten damit große Ermessensspielräume im Hinblick auf die Erheblichkeit der Schwierigkeiten oder bei der Beurteilung des "Gesamtcharakters des Auftrages". Wenn der ursprüngliche Auftrag auf die Erneuerung der Fahrbahndecke einer Autobahn gerichtet ist, kann dann die Reparatur einer darüber führenden Autobahnbrücke als Nachtrag vereinbart werden oder wäre dieser Auftrag trennbar? Ändert sich der "Gesamtcharakter des Auftrages", wenn an Stelle der bezugschlagten Sanierung eines Gebäudes nachträglich dessen teilweiser Abriss und Neubau vereinbart werden, weil die Totalsanierung unwirtschaftlich wäre? Hier kann nicht immer sicher vorhergesagt werden, ob diese Voraussetzungen in einem Nachprüfungsverfahren als "erfüllt" oder als "nicht erfüllt" angesehen werden. Hiervon hängt aber die Wirksamkeit der Nachtragsbeauftragung ab.

Ein derartiges Nachprüfungsverfahren sollen nunmehr Wettbewerber des Auftragnehmers anstrengen können. Das ist der Sinn der Veröffentlichungspflicht, die in § 132 Abs. 5 GWB geregelt ist. Die Änderungen nach Abs. 2 Nrn. 2 und 3 sind im Amtsblatt der Europäischen Union bekanntzumachen. Das hierfür einschlägige Formblatt aus Anlage V Teil G zur Vergaberichtlinie 2014/24/EU verlangt eine Bekanntmachung von Art und Umfang der nachträglich beauftragten Arbeiten und eine Bekanntmachung "der durch die Änderung bedingten Preiserhöhung". Strengt ein Wettbewerber über einen derartigen Nachtrag ein Nachprüfungsverfahren an, dann hilft dem Auftragnehmer die Nachtragsbeauftragung durch den Auftraggeber wenig. Kommt die Vergabekammer zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nrn. 2 oder 3 GWB nicht vorliegen, dann führt dies gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB zur Nichtigkeit der Nachtragsbeauftragung. Hat der Auftragnehmer die Arbeiten bereits ausgeführt, so stehen ihm insoweit keinerlei vertragliche Ansprüche zur Verfügung und er ist darauf angewiesen, einen Wertausgleich nach den Grundsätzen über eine "ungerechtfertigte Bereicherung" des Auftraggebers zu verfolgen.

In gleicher Weise kann aber auch der Auftraggeber, etwa in Gestalt seines Vergabeamtes, im Nachhinein selbst zu der Auffassung gelangen, die Voraussetzungen für einen Nachtrag gemäß § 132 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 GWB seien tatsächlich nicht gegeben gewesen. Der Auftraggeber wäre dann gehalten, gemäß § 133 Abs. 1 Nr. 1 GWB den gesamten Vertrag zu kündigen. In diesem Fall kann der Auftragnehmer einen seinen bisherigen Leistungen entsprechenden Teil der Vergütung verlangen (§ 133 Abs. 2 GWB). Er verliert jedoch den gesamten Vertrag im Übrigen.

Häufig wird der Auftragnehmer vorab nur "dem Grunde nach" mit dem Nachtrag beauftragt, führt ihn dann aus und einigt sich erst im Nachhinein mit dem Auftraggeber über die hierfür zu zahlende Vergütung (oder muss diese einklagen). In diesen Fällen stellt sich schon die Frage, ob die Beauftragung "dem Grunde nach" überhaupt einen vertraglichen Anspruch vermittelt, weil § 132 Abs. 5 GWB von einer Einigung dem Grunde und der Höhe nach ausgeht, die sodann im Amtsblatt der Europäischen Union bekanntzumachen ist. Der Bekanntmachungspflicht wird man allerdings keine konstitutive Bedeutung in dem Sinne beimessen dürfen, dass die Vertragsänderung erst mit der Bekanntmachung im Amtsblatt überhaupt wirksam wird. Deshalb könnte § 2 Abs. 5 und 6 VOB/B eine Einigung über die Vergütungshöhe ersetzen. Was passiert aber, wenn der öffentliche Auftraggeber nach der Beauftragung dem Grunde nach und der Ausführung der Arbeiten durch den Auftragnehmer plötzlich die Auffassung vertritt, er hätte die Änderung dem Grunde nach gar nicht beauftragen dürfen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nrn. 2 oder 3 GWB nicht erfüllt waren? Er wird dann eine Einigung über die Vergütungshöhe verweigern.

Bisher stehen die Gerichte auf dem Standpunkt, dass die fehlende Einigung über die Höhe der Vergütung einer vertraglichen Bindung nicht im Sinne von § 154 BGB (offener Einigungsmangel) im Wege steht und der Preis für den Nachtrag durch gerichtliche Entscheidung festgesetzt werden kann und muss. Es erscheint aber sehr zweifelhaft, ob die Gerichte immer noch die Auffassung vertreten werden, dass sich die Parteien mit der Beauftragung dem Grunde nach und der anschließenden Ausführung des Nachtrages vertraglich binden wollten, wenn sie sich vergaberechtlich gar nicht binden durften. Man kann hierzu mit guten Gründen auch die Auffassung vertreten, dass ein Gericht die Zustimmung des öffentlichen Auftraggebers zu einer Vergütungsregelung nicht durch Urteil ersetzen darf, wenn es auch zu der Auffassung kommen würde, dass die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nrn. 2 oder 3 GWB nicht vorliegen. Das Risiko, dass dann die Beauftragung dem Grunde nach doch nicht zu einem wirksamen Vertragsschluss führt, trägt jedenfalls in vollem Umfang der Auftragnehmer, der den Nachtrag ausführt.

Angesichts der aufgezeigten Gefahren ist den Auftragnehmern dringend zu raten, bei zweifelhaften Nachträgen, also zusätzlichen Bauleistungen, die durchaus getrennt beauftragt werden könnten, oder Änderungen, die erheblich in das Vertragsgefüge eingreifen, sich nicht mit einer "Beauftragung dem Grunde nach" zufriedenzugeben.

Der Auftragnehmer muss vielmehr darauf hinwirken, dass der Auftraggeber mit ihm eine Einigung über Grund und Höhe der nachträglichen Vertragsänderung trifft und diese bekanntmacht. Dabei sollte der Auftraggeber die zusätzliche Möglichkeit der Vorabbekanntmachung gemäß § 135 Abs. 3 GWB wahrnehmen. In diesen Fällen muss der Auftraggeber den beabsichtigten Vertragsschluss ankündigen und eine Stillhaltefrist von zehn Kalendertagen einhalten. Nach Ablauf dieser Stillhaltefrist kann die Nachtragsbeauftragung rechtssicher erfolgen, sofern nicht zwischenzeitlich von Wettbewerbern ein Nachprüfungsverfahren eingeleitet wurde.

Weigert sich der Auftraggeber bei großen und vor dem Hintergrund des § 132 Abs. 2 Nrn. 2 + 3 GWB zweifelhaften Nachträgen diesen Weg zu gehen, wird man dem Auftragnehmer ein Leistungsverweigerungsrecht zubilligen müssen, weil es ihm nach Treu und Glauben nicht zugemutet werden kann, das Risiko einer Unwirksamkeit seiner nachträglichen Beauftragung einzugehen.

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