Kunst am Bau

Grenzen der Belastbarkeit mit Bohrschnitten hervorgehoben

Beton
Die klassisch anmutende Säulenreihe im Geo- und Umweltforschungszentrums der Universität Tübingen verweist durch gezielte Bohrungen und Schnitte im übertragenen Sinne auf die Grenzen der Belastbarkeit des "Systems Erde". Abb.: Alex Kern

Erkrath (ABZ). – Martin Bruno Schmid hat fünf tragende Betonstützen am neuen Geo- und Umweltzentrum GUZ in Tübingen durchschnitten. Die künstlerischen Eingriffe thematisieren die Grenzen der Belastbarkeit massiver Bauwerke und verweisen im übertragenen Sinne darauf, wie fragil das "System Erde" ist. Die Gegend auf der Tübinger Morgenstelle hat sich in den vergangenen 30 Jahren radikal verwandelt. Wo früher Obstbaumwiesen ein einzelnes modernes Klinikum umsäumten, bedeckt nun ein mäandernder Campus die Landschaft. An diesem Standort entsteht nach Plänen des renommierten niederländischen Architekturbüros KAAN Architecten das neue Geo- und Umweltforschungszentrum (GUZ) der Universität Tübingen. Für den öffentlichen Bau hat das Land Baden-Württemberg als Bauherr einen Kunst am Bau-Wettbewerb ausgeschrieben, den der Künstler Martin Bruno Schmid mit seiner Arbeit "Bohrschnitt, prekär" gewonnen hat. Keine beigefügte Skulptur, keine auf sich selbst bezogene Installation ziert künftig den Institutsneubau. Vielmehr schuf der Künstler mit senkrechten Sägeschnitten durch tragende Betonsäulen im Foyer eine eng mit dem Bauwerk und seiner Bestimmung verknüpfte Kunst, deren Symbolgehalt Fragen des heiklen Zustands unserer Natur und Zivilisation aufwerfen und subtil zur Reflexion reizen.

Der Bedarf an modernen Instituten und wissenschaftlichen Arbeitsplätzen ist ungebrochen, damit die Universität Tübingen im nationalen und internationalen Wettbewerb erfolgreich bleibt. So gilt es auch für die Geowissenschaften, ihre verstreut liegenden Einrichtungen straffer zu organisieren, ganz im Sinne der Realisierung des Konzepts "Campus der Zukunft", welches die Eberhard Karls Universität seit 2008 vorantreibt. Das Geo-und Umweltforschungszentrum (GUZ) ist ein weiterer Meilenstein in dieser Konzeption. Sein Neubau führt die unterschiedlichen Forschungsschwerpunkte des Fachbereichs zusammen, die bisher auf elf teilweise sanierungsbedürftige Altbauten im Stadtgebiet verteilt liegen. Die Universität verspricht sich vom neuen Standort eine Bündelung der Ressourcen und Stärkung der zwingend notwendigen interdisziplinären Zusammenarbeit. In Zukunft werden die drei Bereiche, Mineralogie und Geodynamik, Teile der Paläobiologie sowie Angewandte Geowissenschaften unter einem Dach arbeiten. Für Büroflächen, Labore, Veranstaltungs- und Seminarräume sowie einen Hörsaal bietet der nachhaltige Stahlbetonbau, der von KAAN Architecten mit einer Gebäudehülle in Passivhausqualität nach EU-Richtlinie geplant ist, künftig ausreichend Platz. Damit wird eine funktionale Trennung dieser Bereiche auch ohne große Entfernung auf nur wenigen Geschossen erreicht. Studierende und Wissenschaftler treten ins Geo-und Umweltforschungszentrum durch ein mehrgeschossiges, von fünf Betonsäulen gestütztes, offenes Foyer ein. Unaufmerksamen Besuchern entzieht sich die Kunst am Bau, die wie bei allen Öffentlichen Bauten auch hier Vorgabe war. Wer sein Umfeld nicht bewusst wahrnimmt, kann achtlos vorübergehen. Viele trifft das Werk unvermittelt aber unmittelbar. Ein beirrender Lichtschein, ein unerhörter Durchblick. Die spröden Schnitte und Bohrungen durch die hohen Betonsäulen wirken verstörend, sie sind eine gezielt gesetzte Irritation, die, einmal entdeckt, Aufmerksamkeit erregt und zum Denken drängt. Im Innern wird roh behauenes Gestein sichtbar, Zwiespalte bezüglich Grenzen der Tragfähigkeit stellen sich ein. Können die schlanken, geschlitzten Säulen den Lasten des Bauwerks standhalten? Im Wettbewerb galt es, einen Bezug zu den inhaltlichen Schwerpunkten des GUZ zu schaffen. Die Geowissenschaften beschäftigen sich, wie der Begriff schon andeutet, mit der Erforschung der naturwissenschaftlichen Aspekte des Systems Erde. An der Schnittstelle zur Ingenieurwissenschaft erforschen sie auch die Technik, die zur Erkundung und Nutzbarmachung der Natur dient. Manche Künstler belastet eine derart baubezogene Aufgabe. Für Martin Bruno Schmid war sie jedoch herausfordernder Teil einer freien künstlerischen Auseinandersetzung, die schon konzeptionell eine frühe Einbindung in die Phase der Bauplanung und Ausführung vorsah.

Drei Dinge fallen ins Auge. Die Visualisierung veranschaulicht die Venustas/ Schönheit der nahezu antik anmutenden Säulenreihung. Ihre Firmitas/Festigkeit wird durch den gezielten Eingriff bedroht. Die Frage nach der Utilitas/Nützlichkeit brüchiger, angegriffener Systeme wird aufgeworfen. Bewusst oder unbewusst wirken die Vitruv'schen Werte zur Architektur, die in der Renaissance breite Resonanz fanden, bis heute. Die Arbeit an den Betonsäulen im Rohbau ähnelt klassischen Bearbeitungsweisen von Steinmetzen, assoziiert gestaltende Bildhauerei, gleichzeitig verweisen die Steinbruchtechniken auf die Erdbohrungen und Abspaltungen im Fels, die moderne Geowissenschaftler zur Erkundung der Erde vornehmen. Mögen Architekten makellose Sichtbetonflächen mit homogenen Oberflächen bevorzugen, so deutet der Künstler, der den Riss sichtbar macht, auf die natürliche Materialität im Inneren, auf unsichtbare Kräfte und auf die Brisanz menschlicher Eingriffe. Indem der Künstler durch seine erodierende Intervention gemeinsam mit den Statikern und Bauausführenden an die Grenzen der Belastbarkeit der tragenden Säulen geht, versinnbildlicht er auch die Art der Zusammenarbeit, die heute von hochkomplexen Prozessen verlangt wird. Die Realisierung von "Bohrschnitt, prekär" konnte nur im gegenseitigen Vertrauen auf das Wissen und die Erfahrung der Protagonisten gelingen. Wie es im umgekehrten Fall etwa von einem Sichtbetonteam erwartet wird, hat das Kunstwerk im Geo- und Umweltforschungszentrum Tübingen unterschiedlichste Fachleute zum interdisziplinären Zusammenwirken ermutigt.

Martin Bruno Schmid hatte in die Entwurfszeichnungen Schnitte skizziert, deren jeweilige Länge, Lage und Ausrichtung sich erst im Verlauf des Bauprozesses bestimmen ließen. Zunächst musste an jeder Säule statisch berechnet werden, bis zu welchem Punkt die Grenzen der Belastbarkeit ausgereizt werden konnten. Nun lässt sich auch visuell ablesen, wie die Lasten verteilt sind. Je größer sie waren, desto kürzer fiel der Schnitt aus, etwa im weit gespannten Eingangsbereich. Die Statiker mussten bis ans rechnerische Maximum gehen, an ihre Vorgaben hatte sich der Künstler zu halten. Das beinhaltete auch, dass die eiserne Bewehrung im Innern der Säulen nicht tangiert werden durfte, was sich auf die Positionierung der Schnitte auswirkte. Beim Rohbau hielt sich das Unternehmen Riedel Bau exakt an den Schalungsplan und folgte einer Orientierungshilfe der Statikerin, mit dem Stoß der Schalung die Stellung der innenliegenden, vertikalen Bewehrungsstäbe zu markieren. So konnte die erste spannende und heikle Kernbohrung ohne Gefahr ausgeführt werden. Ein eigens für diesen Zweck gefertigter Bohraufsatz fräste im Kronengehäuse 32 mm dicke Proben aus der Betonsäule, die an Grabungsproben von Geowissenschaftler oder an Probewürfel von Betontechnologen erinnern. Diese Kernbohrungen erfolgten im Abstand von wenigen Zentimetern und schufen die Ansatzpunkte zur Linienführung einer diamantbesetzten Seilsäge, mit der das Unternehmen Betontrenn den vertikalen Schnitt in einer Stärke von 12 mm ausführte.

Kunst kann mit simplen Angriffen an die Grenze gehen, mit Kräften spielen, Risse sichtbar machen und heikle Aspekte thematisieren. Für Martin Bruno Schmid ist die vertrauensvolle Übertragung von Verantwortung, das kreative und konstruktive Zusammenwirken von Vielen, ein wesentlicher Bestandteil seines Werks. Erst im Bauprozess hat sich erwiesen, wie umfassend und stimmig seine gedankliche Konzeption für "Bohrschnitt, prekär" von Anfang an war. Keine Kunst im Elfenbeinturm ist entstanden, kein eitles Meisterwerk; so ist auch ein Großteil des Budgets in unsichtbare Berechnungen gegangen und honoriert das fachliche Können der Baubeteiligten, die zur Realisierung beitrugen.

Geologen, die das GUZ täglich nutzen werden, äußern sich begeistert. Diese Kunst am Bau passt zum neuen Geo- und Umweltforschungszentrums, das Ende 2018 eröffnet wird. Mehr als heute wird sich eine immer komplexer werdende Welt auf die Expertise verantwortlicher Menschen stützen müssen, wie sie hier in Tübingen ausgebildet werden.

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