Bauzulieferindustrie

Führungskompetenzen werden notwendig

von: Stephan W. Schusser
Wie entwickelt sich die Bauzulieferindustrie 2022? Stephan W. Schusser befragte Bauzulieferer zur Marktentwicklung, zum Führungsverhalten und zu inhaltlichen Schwerpunkten, und stellt 10 Thesen auf, die Unternehmen zur Reflektion anregen sollen.
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Dr. Stephan W. Schusser ist Managing Partner bei dem Beratungsunternehmen Keylens. Foto: Keylens

München (ABZ). – Eine Corona-Krise, die uns weiterhin im Griff hält, Lieferengpässe und Materialpreissteigerungen, die den Unternehmen viel Flexibilität abverlangen, ein vergleichsweise deutlicher Anstieg der Inflationsrate zum Jahresende oder eine schärfer werdende gesellschaftliche Debatte über notwendige Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung: Beispiele, die zeigen, wie anfällig auch im Jahr 2021 unsere globalisierten wirtschaftlichen Strukturen waren und wie fragil unsere Solidargemeinschaft ist.

Wir haben zum Jahreswechsel 2021/22 wieder 25 Eigentümer, Vorstände und Geschäftsführer in der Bauzulieferindustrie gefragt, mit welcher Perspektive sie auf das kommende Jahr schauen und wie sie planen, auf Entwicklungen zu reagieren. Herausgekommen sind 15 Perspektiven, von denen wir im Folgenden zehn Perspektiven vorstellen. Sie sollen Gedankenimpulse geben und eine Anregung sein, die eigene Sicht auf den Markt zu reflektieren, ohne einen prognostischen Anspruch erheben zu wollen.

1

Wachstumsmotor bleibt weiterhin der Wohnungsbau

Auch 2022 wird für die Bauzulieferindustrie ein Wachstumsjahr. Die Befragten rechnen im Durchschnitt mit einem Volumenwachstum (Absatz) im deutschen Markt von 3,5 Prozent und einem Umsatzwachstum von knapp 10 Prozent. Trotz steigender Materialpreise und der damit einhergehenden Teuerungen wird der Wohnungsbau auch 2022 ein Wachstumstreiber bleiben. Der größere Anteil des Wachstums im Wohnbaubereich wird durch die Fortsetzung der (energetischen) Renovierungs- und Sanierungsaktivitäten erwartet.

2

Globale Lieferketten, Warenverfügbarkeit und Materialkosten

Es ist zu erwarten, dass die Kosten für Bauherren auch im Jahr 2022 hoch bleiben werden. Es gibt wenig Gründe, die einen Rückgang der hohen Material-, Energie- und Transportkosten erwarten lassen.

Anders sieht es dagegen beim Umgang mit unterbrochenen Lieferketten aus: Um ihre Lieferfähigkeit abzusichern, werden Hersteller sich nach Alternativen, wie beispielsweise regionalen Lieferanten, umsehen.

Das kann in der Konsequenz, sofern sie dabei ihr gesamtes Supply-Chain-Ökosystem ansehen, bis zu einer Rückverlagerung von Produktionen führen. Die Globalisierung würde damit in ihrer jetzigen Ausprägung in Teilen rückabgewickelt.

3

Der Fachkräftemangel bekommt ein Geschwisterchen: Arbeitskräftemangel bei Herstellern

Seit Jahren mahnen die Hersteller, dass der Mangel an Fachhandwerkern einer der limitierenden Faktoren für ihre Industrie ist. Eine Trendumkehr ist nicht zu erwarten, auch wenn Hersteller versuchen, die Fachhandwerker, um nicht-wertschöpfende Tätigkeiten zu entlasten und sich so mehr Montagekapazitäten zu sichern. Erstmalig und mit einer überraschenden Heftigkeit beschreiben die Hersteller, wie schwierig es für sie ist, ausreichend qualifiziertes Personal für sich selbst zu rekrutieren. Betroffen sind dabei alle Funktionsbereiche von der Produktion über administrative Bereiche, vom Marketing und Vertrieb bis hin zu allen Themenfeldern rund um die Digitalisierung.

4

Nachhaltigkeit und Wohngesundheit rücken noch mehr in den Fokus

Die Themen Nachhaltigkeit und Wohngesundheit werden 2022 nochmals zusätzlich an strategischer Bedeutung gewinnen. Zwei wesentliche strategische Kernfragen beschäftigen die Hersteller derzeit: Was bedeuten Nachhaltigkeit und/oder Wohngesundheit für die jeweiligen Produkte und das Geschäftsmodell? Und werden Kunden bereit sein, dafür zu bezahlen, oder dient die Nachhaltigkeit lediglich der Wettbewerbsdifferenzierung, für die es (noch) wenig Preisbereitschaft am Markt gibt?

Trotz vieler Ansätze und Ideen ist die Frage noch unbeantwortet, wie das Thema Nachhaltigkeit strategisch abgebildet wird und welche Maßnahmen dem zugrunde liegen. Für fast alle Gesprächspartner gilt aber: Dies wird eine der Kernfragen, die 2022 zu beantworten ist.

5

Resilienz und "Responsiveness to Change"

Es besteht Konsens, dass die dynamische Synchronisierung mit komplexen Märkten zur obersten Maxime der Unternehmensführung werden muss. Geschwindigkeit in der Orientierung und (Re)Aktion sowie Flexibilität in der Marktbearbeitung werden leitende Prinzipien.

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Für die Umfrage wurden laut der Unternehmensberatung Keylens im Herbst 2021 Meinungen und Einschätzungen von Eigentümern und Organmitgliedern aus den wesentlichen Kernsegmenten der Bauzulieferindustrie erhoben. Foto: adobe photo stock

Das bedeutet: Marktveränderungen schnell aufnehmen und umsetzen zu können, zu lernen – sich also stetig zu wandeln und dauerhaft wandelbar zu bleiben. Die Konsequenz ist die weitere Veränderung von Führungsparadigmen: von "langfristig planbar" hin zu "dynamisch und unvorhersehbar", von "top-down-hierarchisch" hin zu "eigendynamisch und selbstorganisiert" oder von "planen und delegieren" hin zu "testen, lernen und coachen".

Zunehmend häufig berichten die Gesprächspartner, Entscheidungen bis auf die maximal niedrigste Organisationsebene zu delegieren und so Eigenverantwortlichkeit zu fördern. Damit beschleunigen sie Entscheidungen und legen diese vor allem in die Hände derjenigen, die die entsprechende Fachkompetenz dafür haben. Das erfordert eine neue Art von Führungs- und vor allem auch Selbstführungskompetenz.

6

Interner und externer Kundennutzen als Fixstern

Im Vergleich zur Befragung 2020/21 sind funktionsübergreifende Teams mittlerweile zum Standard geworden. Neu dazugekommen ist die klare strategische Ausrichtung von Prozessen und der Aufbauorganisation am Kunden (Customer Centricity), die einige Hersteller diesen Teams vorgeben. Kunden und ihre Nutzenerwartungen werden zum gemeinsamen Fixstern und Zielpunkt der Organisation. Nicht mehr die Tür, das Fenster oder die Heizung, sondern der Kunde rückt in den Vordergrund des Tuns. Ein echter Paradigmenwechsel für die Bauzulieferindustrie, der gleichzeitig Energien und Kreativität freisetzt, aber auch Schmerzen erzeugt.

7

Transformation: Vom Produkt zur (Dienst-)Leistung

Einher mit der Ausrichtung am Kunden geht die Transformation der Hersteller weg vom reinen Produkt hin zur (Dienst-)Leistung. Je intensiver sich die Hersteller mit den Nutzenerwartungen und Bedürfnissen ihrer Zielkunden auseinandersetzen, desto deutlicher wird für sie, dass ihr langfristiger Erfolg weniger in den reinen Produkten (Hardware) liegen wird, sondern in innovativen, integrierten Leistungsbündeln (Hardware und Services) für die einzelnen Zielgruppen. Inhaltlich arbeiten deshalb die meisten Hersteller daran, skalierbare (Dienst-)Leistungen zu entwickeln, die sie zusammen mit oder unabhängig von ihrer Hardware als mehrwertstiftendes Leistungsbündel zielgruppenspezifisch (Endkunde, Planer, Handwerker etc.) vermarkten können.

8

Ein hybrides Miteinander verbunden mit der Frage nach Begeisterung

Hybride Beziehungsmodelle werden das neue Normal: Lokale und überregionale Messen werden ausfallen und durch digitale Formate ersetzt. Mögliche Lockdowns führen zu einer Verlagerung ehemals persönlicher Kundenbesuche in den digitalen Raum. Und Teams, die fluide zwischen Homeoffice und persönlichen Vorort-Meetings wechseln, müssen adäquat geführt werden.

Das Nutzen von Tools wie Teams, Zoom, Miro Boards etc. ist in vielen Bereichen zur Routine geworden. Das transaktionale Miteinander funktioniert. Offen und noch nicht gelöst sind beispielsweise folgende Fragen: Wie binden Hersteller ihre Mitarbeiter über virtuelle Instrumente? Wie vermitteln sie Unternehmenskultur und -werte, wenn die Mitarbeiter in ihren Homeoffices sitzen? Wie feiert man Erfolge im virtuellen Raum? Wie lassen sich mit hybriden Kontaktmodellen Neukunden gewinnen? Wie werden Kunden begeistert und wie wird die emotionale Bindung hochgehalten?

Die Klärung dieser Fragen und die Hinterlegung mit Konzepten und Maßnahmen wird eine der Aufgaben für 2022.

9

Digitalisierung "next Level"

Die Maßnahmen zur weiteren Digitalisierung von Prozessen, Schnittstellen und Services werden 2022 auch weiterhin ein großer Punkt auf der Agenda der Hersteller sein – allerdings ändern sich Organisationsform und inhaltlicher Fokus. Mittlerweile wurden digitale Zielbilder formuliert und Effizienzen in der internen Wertschöpfungskette realisiert. Nun richtet sich der Fokus des Managements auf die nächste Entwicklungsstufe: Digitalisierung der Kundenschnittstelle und Marktbearbeitung, digitale Services und Produkte sowie die Einführung digitaler Geschäftsmodelle.

10

Endkundenfokus und Inszenierung der Herstellermarke

Für fast alle Gesprächspartner steht fest, dass 2022 der (private) Endkunde noch intensiver in den Fokus der eigenen Vermarktungsaktivitäten gestellt werden muss: Mit eigens auf den Endkunden zugeschnittenen Kampagnen, Tool, eigenen Showrooms und vielem mehr wird es darum gehen, einen Pull für die Herstellermarke zu generieren. Aufgabe wird sein, gezielt die relevanten Leads und Interessenten zu gewinnen, diese zu qualifizieren und sie dann so weiterzuleiten, dass mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit beim Händler, Planer oder Verarbeiter ein Verkaufsabschluss mit der eigenen Marke erfolgt. Von den Gesprächspartnern wurden folgende fünf weitere Perspektiven genannt, die aber hier in diesem Artikel nicht weiter beleuchtet werden: "Vertrag der Ampelkoalition als Wachstumstreiber des privaten Wohnbaus", "Festhalten an langfristigen Plänen, aber Reaktion auf Trends", "Lieferfähigkeit ist King", "Inflation: Die unbekannte Kraft im Spiel" sowie "Investition: Kerngeschäft versus Diversifikation".

Fazit

Die gute Nachricht: Die Bauzulieferindustrie setzt 2022 dank des Wohnungsbaus ihren Wachstumskurs fort. Altbekannte Herausforderungen bekommen allerdings eine höhere Prägnanz, neue kommen hinzu. Exemplarisch ein paar Beispiele: Zum Fachkräftemangel gesellt sich der Arbeitskräftemangel bei den Herstellern selbst; Nachhaltigkeit bekommt einen deutlich höheren Stellenwert; die Digitalisierung erreicht einen neuen Reifegrad; der Kunde rückt – auch in den Aufbauorganisationen – immer mehr in den Fokus und die Führung steht vor der Herausforderung, der gesellschaftlichen Multiperspektivität mit Neugier anstelle mit Ausgrenzung zu begegnen.

Lösungen, wie virtuelle Arbeitsformen, Flexibilität in der Supply Chain oder hybride Formen der Kundeninterkation, die geschaffen wurden, um trotz Covid-19 noch handlungsfähig zu bleiben, wirken wie ein Veränderungsturbo. Ergänzend dazu richten sich die Führungsparadigmen neu aus: Prinzipien wie Eigendynamik, Selbstorganisation sowie Testen, Lernen und Coachen gewinnen an Bedeutung. Organisationen scheinen beweglicher zu werden. Dafür werden neue Führungskompetenzen inklusive einer starken Selbstführung auf Basis eines fundierten individuellen und unternehmensweiten Wertekanons notwendig.

Ein aus unserer Sicht noch nie dagewesener Transformationsprozess setzt sich in Gang. Er sollte sich aber nicht nur auf die einzelnen Hersteller beschränken, sondern die ganze Industrie umfassen. Denn nicht alle Herausforderungen lassen sich von den Herstellern allein lösen. Für Themen wie Nachhaltigkeit oder Arbeitskräftemangel bedarf es aus unserer Sicht einer unternehmensübergreifenden Kollaboration. Ein Denken und Handeln aus einem Unternehmensverbund, einer großangelegten übergreifenden Kooperation heraus haben einen deutlich höheren Wirkungsgrad als Einzelinitiativen – sei es für die Umwelt oder das Employer Branding.

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Der Autor ist Managing Partner bei dem Beratungsunternehmen Keylens.

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